Ihr alle kennt uns: Die SBB-Kundenberaterinnen und -Kundenberater, die vielen Schweizer Bahnhöfen Leben einhauchen. Selbst nenne ich meine Kollegen und mich die «Prellböcke der Nation». Nicht etwa, weil wir so standhaft sind und manchmal extrem stur sein können, sondern weil wir täglich mit den Ängsten, Freuden, Sorgen und Problemen unserer Kundinnen und Kunden konfrontiert werden.
Heute will ich euch eine dieser Begegnungen schildern, die mir in Erinnerung geblieben ist.
Der Mann mit dem verstorbenen Vater.
Samstagmorgen, ca. 9 Uhr, Zürich Hauptbahnhof.
Ich sitze an meinem Schalter und bestätige dem System heute bereits zum sechsten Mal, dass ich für das nächste Kundengespräch bereit bin. Die von mir betätigte Glocke lässt die wartenden Passagiere aufhorchen und zur Anzeige schauen. Wer ist an der Reihe?
Ein paar Sekunden später weiss ich es: Ein ca. 50-jähriger Herr läuft in die Richtung meines Schalters. Schon von weitem bemerke ich, dass ihn etwas bedrückt. Nach der Begrüssung und einem ersten Austausch wird klar, dass er seinen Vater vor drei Tagen verloren hat. Er ist heute am Zürich HB, weil er die Abos und Mehrfahrtenkarten seines Vaters retournieren will. Er scheint unsicher, überfordert – ja fast verloren in dem Schwall von Emotionen und bürokratischen Massen, die sich vor ihm türmen.
Es ist Fingerspitzengefühl gefragt. Als erstes spreche ich ihm mein herzliches Beileid aus. Ich versichere ihm, dass wir aus jedem der vorgelegten Abos noch etwas rausholen können. Da der Erstattungsprozess bei mehreren Abos inkl. Erklärungen aber gerne mal länger als zehn Minuten geht, biete ich ihm einen Kaffee an (den ich aus meinem eigenen Sack bezahlt hätte). Er lehnt dankend ab – aber ein erstes, zaghaftes Lächeln konnte ich ihm damit schon entlocken.
Während der Erstattung wird klar, dass er aktuell keinen Kopf für irgendwelche Preise und Gutschriften hat. Ich überlege kurz und biete ihm darauf an, alle im System getätigten Rechnungen auf ein separates Blatt Papier zu notieren. So kann er sie später in Ruhe zuhause anschauen. Ein weiteres Lächeln kommt zum Vorschein. Er nimmt das Angebot an.
Am Schluss der Erstattung angelangt, habe ich schon einiges erfahren: Wie sein Vater gestorben ist, was er jetzt alles im Nachhinein für ihn erledigen muss und wie es seinen Kindern geht. Ich frage ihn darauf, wie es denn ihm gehe. Seine Augen füllen sich mit Tränen. «Danke, dass Sie fragen. Bisher hat mich noch niemand ausser meiner Frau direkt gefragt.»
In diesem Moment bekomme auch ich einen Kloss im Hals. «Jetzt bloss nichts anmerken lassen und die Starke bleiben», sage ich mir.
Schnell biete ich ihm ein Nastuch an und frage, ob ich ihm – abgesehen von den bahn-spezifischen Dingen – helfen könne. Eine Telefonnummer, eine Wegbeschreibung, ein Ausdruck von Dokumenten – er soll mir sagen, wenn ich ihn unterstützen darf. Mit diesem Angebot versuche auch ich selbst die Haltung zu bewahren; mir geht sowas sehr nahe.
Und tatsächlich: Er hat eine Ausweiskopie vergessen. Ich gehe kurz seine Identitätskarte kopieren und komme zurück an den Schalter. Inzwischen hat der Herr sich wieder etwas beruhigt und bedankt sich, dass ich für seine Probleme ein offenes Ohr habe. Ich freue mich darüber und sage ihm, dass ich das sehr gerne mache. Schliesslich muss die Bahn ja noch etwas anderes können, als teuer zu sein. Wir lachen beide. Ein bisschen Humor schadet nie.
Als er alles eingepackt hat und sich von mir verabschiedet, entdecke ich einen kleinen Funken Freude in seinen Augen. Meine Mission war erfolgreich.
Ich versorge alle Belege, klicke rüber auf das Kundensystem und atme einmal kurz tief durch, um den nächsten Passagier zu empfangen.
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